Menschliche Verwundbarkeit
Gabriel García V.
Ein Reporter wurde gefragt, ob er in letzter Zeit einige seiner früheren Überzeugungen revidiert habe. Er antwortete: „Durch diese Pandemie ist mir klar geworden, dass es mehrere Dinge gibt, die ich nicht unter Kontrolle habe.“ 1 Er ist nicht der erste, der sagt, dass die Coronavirus-Pandemie uns gelehrt hat, dass wir die Situation nicht unter Kontrolle haben; dass weder wir als Menschen noch die Wissenschaft alle Antworten haben. Mit anderen Worten: Wir entdecken unsere Verwundbarkeit.
Verschiedene Experten haben sich mit dem Thema der menschlichen Verletzlichkeit befasst. María de la Luz Casa Martínez vom Interdisziplinären Zentrum für Bioethik an der Panamerikanischen Universität in Mexiko-Stadt schrieb:
Die von COVID-19 verursachte Pandemie hat die Menschheit erschüttert, da sie schwerwiegende Auswirkungen in vielen Bereichen hat, nicht nur im Gesundheitswesen, sondern auch auf wirtschaftlicher, politischer und sozialer Ebene. Aus ethischer Sicht führen Krisen immer zu einer Reflexion, und in diesem Fall war die Wiederbegegnung mit einem Aspekt der conditio humana, der Verletzlichkeit, offensichtlich. Die heutige extrem hedonistische und autonome Gesellschaft hat versucht, diesen Aspekt zu vergessen, was es unangenehm macht, aber angesichts dieser schrecklichen Krise nicht ignoriert werden kann.
Die Pandemie hat uns an unsere Unsicherheit und Verwundbarkeit erinnert, an unsere Hilflosigkeit bei großen Katastrophen – und daran, wie sehr wir auf Gott angewiesen sind. Es ist, als würde der Allerhöchste uns daran erinnern: „Sei still und wisse, dass ich Gott bin: Ich will hocherhaben sein unter den Völkern, ich will hocherhaben sein auf der Erde.“ 2
Der Prophet Jesaja schrieb, dass wir, wenn Gott uns von oberhalb des Erdkreises betrachtet, wie Ameisen, wie Heuschrecken aussehen. In vielerlei Hinsicht ist die menschliche Weisheit niedergeschlagen, zerbrochen. Wenn wir unser Verständnis nicht auf Gott gründen, sind unsere Schlussfolgerungen vergeblich.
Diese Verwundbarkeit zeigt uns die Grenzen unserer Selbstgenügsamkeit, wenn es um Umwälzungen, Katastrophen und Unglücke geht. Wir lernen auch, wie fehlbar wir sind. Das Coronavirus hat die Schwächen unseres Gesundheitssystems offenbart.
Auf der anderen Seite hat die Erkenntnis unserer Schwäche auch ihre positiven Seiten. Sie hat uns dazu gebracht, mitfühlender und fürsorglicher mit anderen umzugehen. Wir lernen, uns in die Leidenden einzufühlen, und dadurch wachsen wir einander näher. Meine Frau, meine Schwester und ich, aber auch andere in unserem Freundeskreis, haben sich so verletzlich gefühlt wie nie zuvor. Wir erkennen jetzt, wie sorglos wir vor COVID waren. Wir hielten unser Leben in unserem normalen Alltag für selbstverständlich, als wir plötzlich feststellten, dass es den Tod überall um uns herum gab.
So war es auch bei unserem Freund Patricio, der zwei Wochen lang an einem Beatmungsgerät hing. Er verließ das Krankenhaus als veränderter Mensch, demütig und abhängig von Gott. Und Erik, ein junger Vater, der sich nur selten zu Gott bekannte, spürte in seiner verzweifelten Lage die liebevolle Berührung seines Schöpfers, der seine körperliche und geistige Gesundheit wiederherstellte.
Die Erfahrung der Verwundbarkeit war eines der besten Dinge, die passieren konnten, um diese falsche Vorstellung, dass wir alles unter Kontrolle haben, zu untergraben. Es ist das Turmbau zu Babel-Syndrom – die Vorstellung, dass wir mit unserem Wissen unbesiegbar sind und bis in den Himmel vordringen und gelangen können. 4 Das ist eine Lektion, die Gott jeder Generation erteilen muss. Wenn wir zu stolz werden, erinnert uns der Herr daran, dass wir „nur Staub“ 5 sind, und er bringt uns wieder zu der demütigen Erkenntnis zurück, dass wir von Ihm abhängig sind. Mit dieser Krise zwingt uns Gott wieder einmal auf die Knie, und das ist gut so. Wenn wir uns unsere Verwundbarkeit eingestehen, kommen wir Gott näher und sind besser auf die Wechselfälle des Lebens vorbereitet.
Wenn wir in Zeiten der Schwäche und Hilflosigkeit beginnen, auf Gott zu schauen, werden wir bessere Entscheidungen treffen, freundlicher zu anderen sein und die vielen Fallen und Fallstricke vermeiden, die mit Stolz einhergehen.
Wie es in diesem Gospellied heißt:
Ich dachte, die Nummer eins wäre sicher ich.
Ich dachte, ich könnte sein, was ich sein wollte.
Ich dachte, ich könnte auf dem sinkenden Sand des Lebens bauen,
Aber jetzt kann ich nicht einmal gehen, ohne dass du meine Hand hältst.
Ich dachte, ich könnte viel alleine machen.
Ich dachte, ich könnte es den ganzen Tag lang schaffen.
Ich hielt mich für einen mächtigen, großen Mann,
Aber Herr, ich kann nicht einmal gehen, ohne dass du meine Hand hältst.
Herr, ich kann nicht einmal gehen, ohne dass du meine Hand hältst.
Der Berg ist zu hoch und das Tal ist zu breit.
Auf meinen Knien habe ich gelernt zu stehen.
Herr, ich kann nicht einmal gehen, ohne dass du meine Hand hältst. 6
Hinweis: Jegliche Schriftstelle wurde frei aus dem Englischen ins Deutsche übertragen, es sei denn, sie ist mit den Kürzeln der Version der verwendeten deutschen Übersetzung markiert.
- Gonzalo Ramírez, Zeitschrift El Sábado, 2021.
- Psalm 46,10.
- Vgl. Jesaja 40,22.
- Vgl. 1. Mose 11,1-9.
- Psalm 103,14.
- „I Can't Even Walk (Without You Holding My Hand)“ von Colbert Croft und Joyce Croft.
Neueste Artikel
- Der Weg, auf dem man sich befindet, übertrumpft die Absicht
- Mit Gott wandeln
- Einladung zum großen Bankett
- Die Schöpfung: Gottes Plan
- Mit Lob antworten, dagegenhalten und zurückschlagen – Teil 2
- Mit Lob antworten, dagegenhalten und zurückschlagen – Teil 1
- In der Liebe Christi wandeln
- Erfüllte Prophezeiung: Der Beweis, dass Jesus der Messias ist
- Nicht nur Adam und Eva
- Beharrlichkeit im Gebet