Der ungerechte Richter
Peter Amsterdam
Das Gleichnis vom ungerechten Richter, oft auch die Geschichte von der aufdringlichen Frau genannt, ist ein Gleichnis über das Gebet. Es wird manchmal als der „Zwilling“ des Gleichnisses vom Freund um Mitternacht bezeichnet, da sie eine Reihe von Ähnlichkeiten haben. Traditionell werden beide in erster Linie als Lehre zur Beharrlichkeit im Gebet gesehen. Das Gleichnis vom ungerechten Richter spricht zwar über das Gebet, aber wenn wir genauer hinschauen, sehen wir, dass Jesus uns auch etwas darüber erzählt, wie Gott ist, wenn es darum geht, dass Er unsere Gebete hört und erhört.
Beginnen wir, indem wir uns die beiden Figuren der Geschichte ansehen.
Der Richter
Der Richter in dem Gleichnis ist kein ehrenhafter Mann. Jesus beschreibt ihn als jemanden, der weder Gott fürchtet noch Menschen respektiert. Er erkennt weder Gottes Autorität an, noch schenkt er der Meinung anderer Menschen große Beachtung. 1 Infolgedessen können die Menschen nicht an ihn appellieren, indem sie sagen: „Um Gottes willen, richte zu meinen Gunsten“, weil es ihm an Gottesfurcht mangelt und es ihn nicht kümmert, was die Menschen über ihn denken. Er hat kein Gefühl für Ehre. Er fühlt keine Scham. Der Appell „um dieser Witwe willen, die in Not ist“, hat keine Wirkung auf ihn.
Jesus benutzt den extremen Fall des ungerechten Richters, eines Mannes, der keine moralischen Skrupel und kein Ehr- oder Schamgefühl in den Augen der Gemeinschaft hat, um darauf hinzuweisen, dass die Witwe, eine der verletzlichsten Menschen in Israel, vor ihm wahrscheinlich keine Gerechtigkeit erfahren wird.
Die Witwe
Witwen im Palästina des ersten Jahrhunderts und im gesamten Alten Testament konnten extrem verletzlich sein. Sie galten als Symbol für die Unschuldigen, Machtlosen und Unterdrückten. Die Schrift ermahnt, dass Witwen nicht misshandelt werden sollen, und wenn sie es doch werden, sagt sie, dass Gott ihren Schrei hören wird, da Er der Beschützer der Witwen ist. 2 „Vater der Waisen und Helfer der Witwen – das ist Gott in seiner heiligen Wohnung.“ 3 Die Verletzlichkeit einer Witwe wird von Jesus ausgedrückt, wenn Er von Schriftgelehrten spricht, die die Häuser der Witwen verschlingen, womit wahrscheinlich irgendeine Art der finanziellen Ausbeutung gemeint ist. 4
Da die Witwe ihren Fall vor einen Einzelrichter statt vor ein Tribunal bringt, könnte es sein, dass es sich um eine finanzielle Angelegenheit handelt, eine Schuld, die ihr geschuldet wird, ein Pfand oder ein Teil einer Erbschaft, die ihr vorenthalten wird. 5 Dass sie zu einem Richter ging, deutet darauf hin, dass sie wahrscheinlich keinen Sohn oder Bruder oder einen anderen Mann in ihrer Großfamilie hatte, der für sie sprechen konnte, denn wenn sie männliche Verwandte gehabt hätte, wären diese wahrscheinlich vor den Richter gegangen an ihrer Stelle.
Im Kontext der Geschichte ist es verständlich, dass die Witwe im Recht ist und das einfordert, was ihr rechtmäßig zusteht. Die Jünger, denen dieses Gleichnis ursprünglich erzählt wurde, hätten verstanden, dass die Frau wehrlos und hilflos war und niemanden hatte, der sich für sie einsetzte oder sie verteidigte. Ihre Beharrlichkeit war ihre einzige Verteidigung. Sie hätten auch erkannt, dass die Frau untypisch handelte. Als Witwe hätte man von ihr erwartet, dass sie sich wie ein hilfloses Opfer verhält. Stattdessen tritt sie vor dem Richter in die Männerdomäne, und als sie abgewiesen wird, bleibt sie hartnäckig.
Das Gleichnis
Das Gleichnis beginnt mit Lukas, der den Kontext liefert: „Eines Tages zeigte Jesus seinen Jüngern durch ein Gleichnis, wie wichtig es ist, beständig zu beten und nicht aufzugeben.“ „In einer Stadt lebte ein Richter“, sagte er. „Es war ein harter, gottloser Mann, der den Menschen mit Verachtung begegnete. Eine Witwe aus der Stadt sprach immer wieder bei ihm vor und forderte ihr Recht gegenüber jemandem, der ihr unrecht getan hatte.‘“ 6
Wir haben die schutzlose, aber mutige Witwe, die vor den ungerechten Richter tritt und ihn bittet, sich ihres Falles anzunehmen und ihr Gerechtigkeit gegen ihren Widersacher zu verschaffen. Sie ist wiederholt zurückgekehrt, und eine Zeit lang hat er sie abblitzen lassen und sich geweigert, ihr zu helfen.
„Der Richter ging eine Weile über ihre Klagen hinweg, doch irgendwann wurde er ihrer müde. ‚Ich fürchte weder Gott noch Menschen‘, dachte er, ‚aber diese Frau raubt mir den Verstand. Ich will zusehen, dass sie ihr Recht bekommt, damit sie mich mit ihren ständigen Anträgen verschont.‘“ 7
Schließlich wird dem Richter klar, dass die Witwe nicht aufhören wird, für Gerechtigkeit zu plädieren. Er gibt zu, dass es ihm egal ist, was Gott oder Menschen denken, aber es ist ihm nicht egal, dass er ständig von ihr belästigt wird. Er beschließt, ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, nicht aus Güte oder Mitgefühl oder weil es das Richtige wäre. Seine Entscheidung rührt daher, dass er es satthat, von der Witwe belästigt zu werden.
Aufgrund ihrer untypischen Hartnäckigkeit und ihrer unaufhörlichen Forderungen nach Gerechtigkeit beschließt er, zu ihren Gunsten zu entscheiden. Der Richter kommt zu dem Schluss, dass die Frau niemals aufgeben wird, also gibt er nach.
Jesus kommt dann auf den Punkt, den er zu vermitteln versucht: „Und der Herr sagte: ‚Aus dem Handeln dieses ungerechten Richters sollt ihr etwas lernen: Wenn selbst er schließlich ein gerechtes Urteil fällte – wird Gott da nicht seinen Auserwählten, die ihn Tag und Nacht anflehen, ihr Recht verschaffen? Wird er sie vertrösten?‘“ 8
Jesus lenkt die Aufmerksamkeit auf das, was der Richter sagt, und macht dann Seinen Standpunkt deutlich. Wenn wir beten, werden unsere Gebete nicht von einem ungerechten Richter erhört, der sich um niemanden kümmert, der nur aus seinen eigenen egoistischen Motiven heraus antwortet. Stattdessen bringen wir unsere Bitten zu unserem Vater, der uns liebt und die Bitten derer erhört, die im Gebet zu Ihm kommen.
Dieses Gleichnis spricht von der Notwendigkeit zu beten und nicht den Mut zu verlieren, wenn unsere Gebete nicht sofort erhört werden. Beharrlichkeit im Gebet ist ein Punkt des Gleichnisses, aber es geht noch um mehr.
Lukas platziert dieses Gleichnis direkt nach einer Rede Jesu über die Wiederkunft des Menschensohns. „Später sprach er mit seinen Jüngern noch einmal darüber. ‚Es kommt die Zeit, da werdet ihr euch danach sehnen, den Menschensohn auch nur einen Tag bei euch zu haben, aber es wird euch nicht möglich sein.‘“ 9
Jesus sagt Seinen Jüngern, dass die Zeit kommen wird, in der sie sich danach sehnen werden, den Tag Seiner Wiederkunft zu sehen, aber sie werden ihn nicht sehen. Dann gibt Er eine Erklärung, wie es vor Seinem Kommen sein wird, dass es wie in den Tagen vor der Sintflut und in den Tagen Lots sein wird, bevor das Gericht über die Menschen kam. Es wurde gegessen und getrunken, gekauft und verkauft, gepflanzt und gebaut, bis plötzlich das Gericht kam. Die Gläubigen werden sich wünschen, den Menschensohn zu sehen, aber stattdessen geht das Leben weiter. Aber wenn dieser Tag kommt, wird das Gericht schnell sein. 10
Damit beginnt Lukas die Geschichte vom Richter und der Witwe. Der Kontext des Gleichnisses ist die unerfüllte Hoffnung auf das Kommen des Menschensohns. Es geht darum, dass die Gläubigen nicht den Mut verlieren sollen, während sie auf die Erfüllung von Gottes Verheißungen warten, sondern dass wir, während wir warten, weiterhin im Glauben beten sollen, weil wir wissen, dass Gott nicht versagen wird, zu antworten. Wie Jesus gesagt hat: „Wenn selbst er schließlich ein gerechtes Urteil fällte – wird Gott da nicht seinen Auserwählten, die ihn Tag und Nacht anflehen, ihr Recht verschaffen? Wird er sie vertrösten?“ 11
Im Zusammenhang mit der Wiederkunft des Menschensohns wird Gott Seinem Volk Gerechtigkeit bringen, zu der Zeit, die Er erwählt hat. Und während wir warten, ist es unsere Verantwortung, zu beten und zu vertrauen, nicht aufzugeben, müde oder erschöpft zu werden, was andere Definitionen des griechischen Wortes sind, das mit „den Mut verlieren“ übersetzt wird.
Jesus fährt fort zu sagen: „Ich sage euch, er wird ihnen bald Gerechtigkeit widerfahren lassen.“ Gott wird die Gebete seiner Kinder durch die Zeitalter hindurch für Gerechtigkeit durch Jesu Wiederkunft beantworten. Wenn er kommt, wird ihnen schnell Gerechtigkeit zuteilwerden.
Dann stellt Jesus eine sehr ernüchternde Frage: „Doch wenn der Menschensohn wiederkommt, wie viele wird er dann vorfinden, die solch einen Glauben haben?“ 12 Das ist eine Frage, über die es sich lohnt nachzudenken. Wird Jesus bei Seiner Wiederkunft die Gläubigen finden, diejenigen, die durchgehalten haben, die vertraut und geglaubt haben? Wird Jesus feststellen, dass wir, die wir Christen sind, Ihm treu geblieben sind?
Jesus erzählte dieses Gleichnis Seinen Jüngern vor Seiner Ankunft in Jerusalem, nicht lange bevor Er verhaftet, verurteilt und gekreuzigt werden würde. Seine Jünger waren dabei, gefährlichen Zeiten entgegenzusehen. Ihnen wurde gesagt, sie sollten beten und nicht den Mut verlieren.
Christen haben sich zu allen Zeiten danach gesehnt, die Wiederkunft Jesu zu sehen. Jesus sagt, dass es geschehen wird. Gott wird Seinen Auserwählten Gerechtigkeit geben, denen, die Tag und Nacht zu Ihm geschrien haben, und wenn es kommt, wird das Gericht schnell sein.
Jesus fragt, ob Er, wenn Er wiederkommt, Glauben auf der Erde vorfinden wird. Daran können wir sehen, dass Er versteht, dass wir Menschen sind, dass unser Glaube in Zeiten der Prüfung getestet wird. Indem Er diese Tatsache mit dem Gebet verknüpft, macht Er deutlich, dass unsere Fähigkeit, im Glauben zu bleiben, mit unserer Treue zum Gebet und unserem Vertrauen auf Gott verbunden ist.
Wir sollen in unserem Gebetsleben beharrlich sein. Das bedeutet, beharrlich zu sein, entschlossen zu beten, regelmäßig zu beten und weiterhin im Glauben zu beten, auch wenn wir die Antwort nicht sofort erhalten. So wie die Frau mutig vor den Richter trat, sollen auch wir im Gebet mutig vor den Herrn treten.
Gleichzeitig ermahnt Jesus Seine Jünger, nicht wie die Heiden zu sein, „Plappert nicht vor euch hin“ und „glaubt, dass eure Gebete erhört werden, wenn ihr die Worte nur oft genug wiederholt“, oder wie die Schriftgelehrten, die „um zu verbergen, wie sie wirklich sind, in der Öffentlichkeit lange Gebete sprechen.“ 13 Jesus will keine langen oder sich wiederholende Gebete. Was wichtig ist, ist, dass unsere Gebete eine von Herzen kommende Kommunikation mit unserem Vater sind, der uns liebt.
Die Idee der Beharrlichkeit im Gebet ist nicht, dass wir versuchen sollen, Gott mit unseren Bitten immer wieder zu ermüden. Wir sollen unsere Bitten mit Glauben und Vertrauen vor Ihn bringen, in dem Wissen, dass Er uns liebt wie ein Vater Sein Kind und uns geben wird, worum wir bitten, wenn es gut für uns ist und in Seinem Willen liegt, dies zu tun. Das heißt, wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass hartnäckiges Beten nicht immer dazu führt, dass Gott so antwortet, wie wir es wünschen.
Wir sollen nicht den Glauben verlieren, wenn unsere Gebete nicht sofort erhört werden. Uns wird gesagt, dass wir nicht den Mut verlieren sollen. Jesus weist uns an, im Glauben und Vertrauen weiterzumachen, in dem Wissen, dass Gott ein fairer und großzügiger Richter ist, ein liebender Vater, der nach Seinem Willen und zu Seiner Zeit antworten wird.
Und vielleicht ist es am wichtigsten, dass wir uns daran erinnern, dass Gott jeden von uns als Sein Kind liebt. Er kümmert sich um uns. Ihm liegen unsere besten Interessen am Herzen. Wir können und sollten im Gebet zu Ihm kommen mit Glauben, Vertrauen, Demut und Liebe zu dem Einen, der uns mit Seiner ewigen Liebe liebt.
Ursprünglich veröffentlicht im Januar 2014. Überarbeitet und neu herausgegeben im März 2021.
- Kenneth E. Bailey, Jesus Through Middle Eastern Eyes (Downers Grove: InterVarsity Press, 2008), 263.
- 2.Mose 22,22-23.
- Psalm 68,6.
- Lukas 20,47.
- Joachim Jeremias, Rediscovering the Parables (New York: Charles Scribner's Sons, 1966), 122.
- Lukas 18,1-3.
- Lukas 18,4-5.
- Lukas 18,6-7.
- Lukas 17,22.
- Vgl. Lukas 17,26-30.
- Lukas 18,7.
- Lukas 18,8.
- Vgl. Matthäus 6,7; Markus 12,40.
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