Das Angelusgebet, was es uns zeigt
Von Henry Drummond (1851-1897), gekürzt
Oft bedient sich Gott der Musik, aber auch der Kunst, um die Seele des Menschen anzusprechen. Millets berühmtes Gemälde „Das Angelusgebet“ ist ein bildgewordener Text, über den ich heute Abend zu euch ein paar Worte verlieren werde.
Es gibt drei Elemente in dem Bild – einen Kartoffelacker, einen jungen Mann und eine junge Frau vom Land in der Mitte und weit hinten am Horizont den Turm einer Dorfkirche. Das ist alles – keine großartige Umgebung und keine malerischen Menschen. In römisch katholischen Ländern läuten abends die Kirchenglocken, um die Menschen daran zu erinnern zu beten. Einige gehen in die Kirche, während diejenigen auf den Feldern ihre Köpfe für ein paar Minuten in stillem Gebet beugen.
Das Bild enthält die drei großen Elemente, die ein perfekt abgerundetes Christenleben ausmachen. …
Das Angelusgebet bietet uns vielleicht Ideen für das, woraus ein vollkommenes Leben sich zusammensetzt.
Das erste Element in einem ausgeglichenen Leben ist ARBEIT.
Dreiviertel unserer Zeit verbringen wir möglicherweise mit Arbeit. Natürlich bedeutet das, dass unsere Arbeit genauso religiös sein sollte wie unser Gottesdienst. Wenn wir nicht zur Ehre Gottes arbeiteten, blieben dreiviertel unseres Lebens ungeweiht.
Der Beweis dafür, dass Arbeit etwas Religiöses ist, ist der, dass das Leben Christi zum größten Teil mit Arbeit verbracht wurde. In einem großen Zeitabschnitt seiner ersten dreißig Jahre, arbeitete Er mit Hammer und Hobel und fertigte Pflüge, Joche und Haushaltsmöbel an. Das öffentliche Amt Christi erstreckte sich über nur etwas mehr als zweieinhalb Jahre Seines Lebens auf der Erde. Der größte Anteil Seiner Zeit wurde einfach mit alltäglichen Aufgaben verbracht, und spätestens seitdem hatte Arbeit eine neue Bedeutung angenommen.
Das Kommen Christ auf die Welt wurde drei Abordnungen offenbart, die hingingen und ihn anbeteten. Zunächst kamen die Hirten, oder die Arbeiterklasse; als zweites kamen die Weisen oder die Studentenklasse; und als drittes die beiden Alten im Tempel, Simeon und Anna; das heißt, Christus ist den Menschen bei ihrer Arbeit offenbart worden, ebenfalls zu Menschen bei ihren Büchern und den Menschen beim Gottesdienst. Es waren die alten Menschen, die Christus in ihrem Gottesdienst fanden, und je älter wir werden, desto mehr Zeit verbringen wir ausschließlich in Andacht, mehr, als wir es jetzt können. In der Zwischenzeit müssen wir unseren Gottesdienst mit unserer Arbeit verbinden und wir können damit rechnen, Gott bei unseren Büchern und Alltagsaufgaben zu finden.
Ein anderes Element im Leben, was aber natürlich das Allerwichtigste ist, ist GOTT.
Das Angelusgebet ist vielleicht das religiöseste Bild, das in diesem [19. ]Jahrhundert gemalt wurde. Du kannst es dir nicht anschauen, den jungen Mann sehen, wie er auf dem Acker steht mit seinem Hut in den Händen und ihm gegenüber das Mädchen mit gebeugtem Haupt und ihren gefalteten Händen an der Brust, ohne einen Hauch von Gott zu spüren.
Tragen wir überall, wohin wir gehen, den Gedanken Gottes mit uns? Wenn nicht, verfehlen wir den größten Teil des Lebens. Haben wir einen Glauben an Gottes innenwohnende Gegenwart, wo immer wir hingehen? Es gibt nichts Dringenderes in dieser Generation, als eine größere und schriftgemäßere Vorstellung von Gott. Ein berühmter amerikanischer Schriftsteller hat uns von seiner Vorstellung von Gott erzählt, wie er sie als Junge aufgrund von Büchern und Predigten bekommen hatte. Für ihn war Gott ein weiser uns strenger Rechtsanwalt. Ich erinnere mich noch gut an die schreckliche Vorstellung, die ich von Gott hatte, als ich ein Junge war. Man hatte mir eine bebilderte Ausgabe von Watts Gesangbuch in die Hand gedrückt, in dem Gott als ein großes stechendes Auge dargestellt wurde mitten in einer großen dunklen Gewitterwolke. Den Eindruck, den das Bild meinem jungen Verstand vermittelte, war das eines Gottes als ein großer Detektiv, der allen meinen Handlungen nachspionierte, zum Klang des Liedes: „Schreib nun die Mär, des was die kleinen Kinder tun.“
Das war von Grund auf eine falsche und schädlich Idee, die mich Jahre kostete, um sie auszuradieren. Wir halten Gott für jemanden „dort oben“ oder jemanden, der die Welt vor 6000 Jahren erschaffen hat und sich dann zur Ruhe setzte. Wir müssen erkennen, dass Er nicht an Zeit oder Raum gebunden ist. Gott kann man nicht als jemanden ansehen, der einfach zu jener Zeit da war oder dort oben im All ist. Wenn nicht dort, wo ist Er? „Die Botschaft ist dir ganz nahe; sie ist auf deinen Lippen.“ Das Königreich Gottes ist in dir, und Gott ist unter den Menschen. Wann werden wir den schrecklichen, weit entfernten, abwesenden Gott unserer Kindheit durch den überall gegenwärtigen Gott der Bibel ersetzen.
Zu viele der alten christlichen Verfasser scheinen Gott lediglich als den größten Menschen aufgefasst zu haben – eine Art göttlichen Herrscher. Er ist unendlich viel mehr; Er ist ein Geist, wie Jesus der Frau am Brunnen erklärte, und in Ihm leben, handeln und sind wir. Last uns von Gott als von Emmanuel denken – Gott mit uns – als dem Einen, all und immer Gegenwärtigen und Ewigen. Vor langer, langer Zeit schuf Gott die Materie, dann die Blumen, Bäume und Tiere, dann schuf Er den Menschen. Hörte Er auf? Ist Gott tot? Wenn Er lebt und handelt, was macht Er dann? Er verbessert den Menschen.
Er ist es, „der in euch wirkt.“ Die Knospen unserer Natur sind noch nicht alle aufgegangen; der Saft, der sie treibt, stammt von Gott, der uns geschaffen hat, von Christus, der in uns wohnt. Unser Körper ist der Tempel des Heiligen Geistes, und wir sollten uns daran erinnern, da das Gespür für Gott nicht durch Logik sondern durch Erfahrung erlangt wird.
Bis sie sieben Jahre alt war, war das Leben Helen Kellers, des taubstummen und blinden Mädchens aus Boston, eine absolute Leere. Nichts ging in jenen Verstand, da die Ohren und Augen zur äußeren Welt verschlossen waren. Durch den großartigen Prozess, der entdeckt worden ist, der die Blinden sehen, die Tauben hören und die Stummen sprechen lässt, begann die Seele dieses Mädchens sich zu öffnen, und sie begannen kleine Wissensstückchen dort abzulegen, und nach und nach erlangte sie Bildung. Sie behielten ihre religiöse Unterrichtung Phillips Brooks vor. Nach etlichen Jahren, als sie zwölf war, brachten sie sie zu ihm, und er begann mit ihr vermittels der jungen Dame zu reden, die mit ihr über die äußerst feine Methode der Berührung kommunizierte. Er fing an, ihr über Gott zu erzählen. Was Er getan hatte, wie Er die Menschheit liebte und was Er uns bedeutet. Das Kind lauschte sehr aufmerksam und sagte am Ende:
„Herr Brook, ich kannte das alles schon vorher, nur kannte ich Seinen Namen nicht.“
Wie oft haben wir etwas in uns verspürt, das uns dazu treibt, etwas zu tun, das wir nicht aus uns selbst hervorgebracht hätten oder das uns befähigte, etwas zu tun, was wir nicht selbstständig getan hätten. „Denn Gott in euch.“ Diese großartige einfache Tatsache erklärt viele Lebensgeheimnisse und nimmt uns die Furcht, die uns andernfalls überkommt, wenn wir den Schwierigkeiten begegnen, die vor uns liegen.
Das dritte Element im Leben, über das ich reden möchte, ist die LIEBE.
In diesem Bild erkennen wir das zärtliche Gefühl der Gemeinsamkeit, das durch den jungen Mann und die junge Frau zum Ausdruck kommt. Es spielt keine Rolle ob sie Bruder oder Schwester sind oder Liebhaber und Geliebte; hier haben wir das Ideal von Freundschaft, das letzte Element nach den beiden vorher erwähnten. Wenn die beiden, der Mann oder die Frau, alleine auf dem Feld gestanden hätten, wäre es unvollständig gewesen.
Liebe ist das göttliche Element im Leben, denn Gott ist Liebe. „Wer Gott liebt, ist von Gott geboren“, deshalb, um jemanden zu zitieren, „bewahre deine Freundschaften in gutem Zustand.“ Lasst uns den Geist der Freundschaft pflegen und lasst die Liebe Christi in eine größere Liebe ausufern, nicht nur für unsere Freunde, sondern für die ganze Menschheit. Wenn du dieses Element nicht in deinem Leben hast, wird deine Arbeit überall, wo du hingehst und bei allem, was du unternimmst ein Fehlschlag sein.
Diese drei Elemete sind ein guter Wegweiser auf das Ziel hin, ein abgerundetes Leben zu formen. Manche von uns mögen diese Zutaten nicht in den richtigen Proportionen innehaben, doch wenn es dir an dem einen oder dem anderen fehlt, dann bete dafür und arbeite dran, dass dein Leben abgerundet ist und so vollständig, wie Gott es beabsichtigt hat.
Erschienen auf Anker im April 2013
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