Juli 16, 2020
Viele von uns sind mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter in Lukas 10,25-37 vertraut. Da wir jedoch in Kulturen leben, die sich sehr von der Kultur Palästinas im ersten Jahrhundert unterscheiden, gibt es Aspekte der Geschichte, die uns tatsächlich fremd sind. Wenn wir dieses Gleichnis hören oder lesen, schockiert es uns nicht unbedingt und setzt sich nicht unbedingt über den Status quo der heutigen Welt hinweg. Doch die Zuhörer des ersten Jahrhunderts, die Jesus im ersten Jahrhundert dieses Gleichnis erzählen hörten, wären darüber erstaunt gewesen. Diese Botschaft widersprach ihren Erwartungen und hätte ihre kulturellen Grenzen in Frage gestellt. 1
Das Gleichnis beinhaltet verschiedene Charaktere. Lasst uns einen Blick auf die Personen in der Reihenfolge ihres Erscheinens werfen.
Das Gleichnis sagt uns sehr wenig über die erste Person, den Mann, der geschlagen und ausgeraubt wurde, aber es liefert uns eine Tatsache, die für die Geschichte entscheidend ist. Er wurde seiner Kleider beraubt und war halb tot. Er lag am Boden, zusammengeschlagen und bewusstlos. 2
Dies ist deshalb von Bedeutung, weil die Menschen im ersten Jahrhundert anhand des Kleidungsstils, den sie trugen, und ihrer Sprache oder ihres Akzents leicht zu identifizieren waren. Da der zusammengeschlagene Mann keine Kleidung hatte, war es unmöglich, seine Nationalität zu erkennen. Dass er bewusstlos war und nicht sprechen konnte, machte es unmöglich zu erkennen, wer er war oder woher er stammte.
Die zweite Person in der Geschichte ist der Priester. Jüdische Priester in Israel waren der Klerus, der innerhalb des Tempels in Jerusalem jeweils eine Woche lang, während eines Zeitraums von vierundzwanzig Wochen diente. Es gibt in dieser Geschichte keine Einzelheiten über den Priester, aber diejenigen, die Jesu Gleichnis hörten, nahmen höchstwahrscheinlich an, dass er nach seiner Woche des Dienstes im Tempel in sein Haus in Jericho zurückkehrte.
Die dritte Person in dem Gleichnis ist der Levit. Zwar waren alle Priester Leviten, aber nicht alle Leviten waren Priester. Sie galten als untergeordnete Geistliche, und wie die Priester dienten sie zweimal im Jahr für zwei Wochen.
Der Samariter: Die Samariter waren ein Volk, das im Hügelland von Samaria zwischen Galiläa im Norden und Judäa im Süden lebte. Sie glaubten an die ersten fünf Bücher des Mose, glaubten aber, dass Gott anstelle von Jerusalem den Berg Gerizim als Ort der Anbetung bestimmt hatte.
128 v. Chr. wurde der Samaritertempel auf dem Berg Gerizim von der jüdischen Armee zerstört. Zwischen 6 und 7 n. Chr. legten einige Samariter Menschenknochen in den jüdischen Tempel und verunreinigten ihn dadurch. Diese beiden Ereignisse spielten eine Rolle in der tiefen Feindseligkeit, die zwischen Juden und Samaritanern bestand und die im Neuen Testament deutlich wurde. In diesem Umfeld kultureller, rassischer und religiöser Feindschaft erzählte Jesus das Gleichnis vom guten Samariter.
Unsere letzte Charakter-Figur ist der Rechtsanwalt. Der Rechtsgelehrte ist zwar nicht Teil des Gleichnisses, aber das Gleichnis wird aufgrund der Fragen, die er Jesus stellt, erzählt. Zu Zeiten des Neuen Testaments war ein Rechtsgelehrter dasselbe wie ein Schriftgelehrter. Sie waren Spezialisten für religiöses Recht, Interpreten und Lehrer der Gesetze des Mose. Sie untersuchten die schwierigeren und subtileren Fragen des Gesetzes und gaben Stellungnahmen ab. Das Motiv dieses Rechtsgelehrten, Jesus seine Fragen zu stellen, könnte darin bestanden haben, eine Debatte über die Auslegung der Heiligen Schrift zu beginnen. Möglicherweise lag es auch daran, dass er ein geistig Suchender war.
Das Gleichnis
Nun, da wir mit der Besetzung der Charaktere besser vertraut sind, wollen wir uns ansehen, was geschah, als Jesus vom Rechtsgelehrten in Lukas Kapitel 10, Vers 25, befragt wurde: „Ein Mann, der sich im Gesetz Moses besonders gut auskannte, stand eines Tages auf, um Jesus mit folgender Frage auf die Probe zu stellen: ‚Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu bekommen?‘“ Die Frage, wie man das ewige Leben erlangen kann, wurde im ersten Jahrhundert unter jüdischen Gelehrten diskutiert, wobei die Betonung auf der Befolgung des Gesetzes als Mittel zur Erlangung des ewigen Lebens lag.
„Jesus erwiderte: ‚Was steht darüber im Gesetz Moses? Was liest du dort?‘ Der Mann antwortete: ‚Du sollst den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit deiner ganzen Kraft und all deinen Gedanken lieben.‘ Und: ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.‘“ 3
Wie überall in den Evangelien zu sehen war, hatte Jesus genau das gelehrt, und vielleicht hatte der Gesetzesgelehrte gehört, wie Jesus diesen Standard der Gottesliebe mit allem, was in ihm ist, und der Nächstenliebe hochhielt. In seinem nächsten Satz möchte der Rechtsgelehrte wissen, was er zu tun hat, was für Werke, welche Handlungen er ausführen muss, um sich zu rechtfertigen, mit anderen Worten, um das Heil zu verdienen. „Der Mann wollte sich rechtfertigen; deshalb fragte er Jesus: ‚Und wer ist mein Nächster?‘“
Der Anwalt möchte wissen, wen genau er lieben muss. Er weiß, dass seine Nachbarn Mitmensch, Mitjuden sind. Aber Nichtjuden wurden nicht als Nächste angesehen, obwohl es in 3.Mose19,34 heißt: „Den Ausländer, der bei euch wohnt, sollt ihr wie einen von euch behandeln und ihr sollt ihn lieben wie euch selbst.“ Also wären die Nachbarn des Anwalts wahrscheinlich Mitjuden und jeder Fremde, der in seiner eigenen Stadt lebt. Alle anderen sind definitiv keine Nachbarn, insbesondere die verhassten Samariter. Als Antwort auf die Frage „Wer ist mein Nächster“ erzählt Jesus das Gleichnis.
„Jesus antwortete: ‚Ein Mann ging von Jerusalem hinab nach Jericho, und er fiel unter Räuber, die ihn auszogen, schlugen ihn und gingen weg, wobei sie ihn halbtot zurückließen.‘“ 5 Obwohl es unmöglich war, die Nationalität des Mannes zu bestimmen, hätten die ursprünglichen Zuhörer im Kontext und Ergebnis der Geschichte höchstwahrscheinlich angenommen, dass dieser Mann ein Jude war.
„Zufällig kam ein jüdischer Priester vorbei. Doch als er den Mann dort liegen sah, wechselte er auf die andere Straßenseite und ging vorüber.“ 6 Es ist wahrscheinlich, dass der Priester von einer der Wochen, in denen er im Tempel diente, zurückkehrte. Aufgrund seines Status war er höchstwahrscheinlich auf einem Esel geritten und hätte den Verletzten nach Jericho transportieren können. Das Problem war, dass er nicht sagen konnte, wer oder welcher Nationalität der Mann war, da er sowohl bewusstlos als auch nackt war. Der Priester war nach dem mosaischen Gesetz verpflichtet, einem Mitjuden zu helfen, aber nicht einem Ausländer. Darüber hinaus wusste der Priester nicht, ob der Mann tot war oder nicht, und nach dem Gesetz würde das Sich-Nähern an oder Berühren eines toten Körpers dazu führen, dass er zeremoniell unrein wäre. Am Ende entschied er sich, an dem Mann vorbeizugehen und auf der anderen Straßenseite zu bleiben, um sicherzustellen, dass er den richtigen Abstand zu ihm hielt.
Das Gleichnis geht weiter: „Dann kam ein Tempeldiener (ein Levit) und sah ihn ebenfalls dort liegen; doch auch er ging auf der anderen Straßenseite vorüber.“ 7 Der Levit tut dasselbe wie der Priester und trifft die Entscheidung, nicht zu helfen.
Die dritte Person, die die Szene betritt, ist ein verachteter Samariter, ein Feind. Jesus erzählt von allem, was der Samariter für den Sterbenden tut, Dinge, die der religiöse Priester und der Levit, die beide im Tempel dienen, hätten tun sollen. „Schließlich näherte sich ein Samaritaner. Als er den Mann sah, empfand er tiefes Mitleid mit ihm. Er kniete sich neben ihn, behandelte seine Wunden mit Öl und Wein und verband sie. Dann hob er den Mann auf seinen eigenen Esel und brachte ihn zu einem Gasthaus, wo er ihn versorgte.“ 8
Der Samariter hat Mitleid mit dem Verletzten, verbindet seine Wunden, gießt dann Wein zur Desinfektion und Öl für die Heilung auf. Darüber hinaus hebt er den Mann auf sein eigenes Tier und bringt ihn in ein Gasthaus, vermutlich in Jericho. Der Samariter ist derjenige, der getan hat, was weder der Priester noch der Levit tun würde.
Und dann tat er noch mehr. „Am nächsten Tag gab er dem Wirt zwei Denare und bat ihn, gut für den Mann zu sorgen. ‚Sollte das Geld nicht ausreichen‘, sagte er, ‚dann werde ich dir den Rest bezahlen, wenn ich das nächste Mal herkomme.‘“ 9 Zwei Denare entsprachen dem Lohn eines Arbeiters für zwei Tage. Das Versprechen des Samariters, zurückzukehren und alle zusätzlichen Ausgaben zu bezahlen, gewährleistete die Sicherheit und die weitere Versorgung des niedergeschlagenen Mannes.
Als Jesus die Geschichte beendet hat, fragt er den Rechtsgelehrten: „Wer von den dreien war nun deiner Meinung nach der Nächste für den Mann, der von Räubern überfallen wurde?“, fragte Jesus. Der Mann erwiderte: „Der, der Mitleid hatte und ihm half.“ Jesus antwortete: „Ja. Nun geh und mach es genauso.“ 10
Als der Rechtsgelehrte fragte: „Wer ist mein Nächster?“, wollte er eine kategorische, schwarz-weiße Antwort. Aber die Geschichte Jesu zeigte, dass es keine kurze Liste gibt, die einschränkt, wen man zu lieben hat oder wen man als seinen Nächsten betrachten soll. Jesus definierte „deinen Nächsten“ als diejenigen in Not, die Gott über deinen Weg bringt.
Durch dieses Gleichnis machte Jesus deutlich, dass sein Nächster - unser Nächster - jeder in Not ist, unabhängig von seiner Hautfarbe, Religion oder seiner Stellung in der Gemeinschaft. Es gibt keine Grenzen, wenn es darum geht, wem gegenüber wir Liebe und Mitgefühl zeigen sollten. Mitgefühl geht weit über die Anforderungen des Gesetzes hinaus. Von uns wird sogar erwartet, dass wir unsere Feinde lieben.
Die geprüften Männer und Frauen, denen wir in unserem Leben begegnen, liegen vielleicht nicht halbtot am Straßenrand. Aber so viele Menschen brauchen Liebe und Mitgefühl, sie brauchen eine helfende Hand oder jemanden, der bereit ist, auf ihre Herzensschreie zu hören, damit sie wissen, dass sie wichtig sind, dass sich jemand um sie kümmert. Und wenn Gott dich auf ihren Weg gebracht hat, dann ruft Er dich vielleicht dazu auf, diese Person zu sein.
Jesus hat in diesem Gleichnis die Messlatte für Liebe und Mitgefühl gesetzt, und Seine Schlussworte an dich und mich – die Zuhörer von heute – lauten: „Nun geh und mach es genauso.“
Ursprünglich erschienen im Mai 2013. Angepasst und neu veröffentlicht Juli 2020.
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