Wer ist mein Nächster?

Mai 17, 2017

Iris Richard

[Who Is My Neighbor?]

Ich las einer Gruppe von 8-9-Jährigen im Kindergottesdienst die bekannte Geschichte vom barmherzigen Samariter aus einer illustrierten Comicbibel vor, sie endete mit der Frage, die Jesus an Seine Zuhörer stellte: „‚Wer von den dreien war nun deiner Meinung nach der Nächste für den Mann, der von Räubern überfallen wurde?‘ Der Mann erwiderte: ‚Der, der Mitleid hatte und ihm half.‘ Jesus antwortete: ‚Ja. Nun geh und mach es genauso!‘“ [Siehe Lukas 10:25–37]

Einer der Jungs mit roten Wuschelhaaren und Sommersprossen im Gesicht fragte: „Wie finde ich einen Nächsten, der meine Hilfe braucht?“

Diese Frage brachte mich zum Nachdenken! Klar stoßen wir so gut wie nie auf eine verprügelte Person auf der Straße oder werden Zeugen, wie jemand beraubt und misshandelt wird, und mein Hausnachbar braucht selten etwas von mir, soweit ich weiß, besonders wenn man in einem großen Wohnkomplex lebt wie wir.

Auf der weiteren Suche stellte ich mir einen meiner normalen Tagesabläufe vor, der ungefähr so war:

Eine halbe Stunde Morgenandacht und -gebet, danach etwas Frühsport und ein schnelles Frühstück. Es aus dem Haus zu schaffen, um dem Berufsverkehr zuvorzukommen, ist oft ein Gehetze. Selbst wenn ich pünktlich zu einer Verabredung komme, sind die meisten anderen in unserer afrikanischen Stadt es nicht, was mich wiederum in Bedrängnis bringt, meine nächste Verabredung zu erreichen, womit ich mich dann gezwungenermaßen im Kreis der Verspäteten einreihen muss. Dadurch werde ich sauer, ohne viel Lust anzuhalten und einer älteren Bettlerin an der Straßenecke oder dem Alten, der nur noch Beinstümpfe hat und mit ausgestreckter Hand im Rollstuhl am Straßenrand sitzt, eine Münze zu geben.

Waren das meine Nächsten?, fragte ich mich. Ich war vorübergeeilt.

War er mein Nächster? Ich war von einem Ereignis zum Nächsten übergegangen, ohne Zeit zu haben, die SMS eines enttäuschten Freundes zu beantworten, der mich kurz treffen wollte. Ein offenes Ohr hätte für ihn die Welt bedeuten können.

Könnte er mein Nächster gewesen sein? Ich huschte über die E-Mail eines alten Bekannten, der mir erklärte, wie es letztens in seinem Leben bergab ging und er jemanden zum Reden brauchte. Ich beschloss, dass es warten konnte und widmete mich dringender geschäftlicher E-Mails, die unter „Eilig“ schon auf Antwort warteten. Würde es tatsächlich so lange gedauert haben, ihm ein paar aufmunternde Worte zu schreiben, die ihm vielleicht über den Tag geholfen hätten?

Als ich später zu meinem Wagen auf dem Parkplatz kam, versuchte der Fahrer des Autos neben meinem, verzweifelt seinen Wagen anzulassen, aber ohne Erfolg. So wie es aussah, war seine Batterie schwach und er bräuchte wohl ein Starterkabel. Mist, das müsste wohl von einem Guten Samariter kommen, aber nicht von mir. Mein Starterkabel war tief irgendwo in meinem Heck vergraben unter einigen Sachen, die ich bei einem unserer Projekte auf dem Nachhauseweg abgeben sollte. Der ist ganz bestimmt nicht mein Nächster, waren meine Gedanken, als ich mich mit mitleidigem Gesicht hinter mein Lenkrad klemmte. Zumindest war ich unterwegs zu einem Hilfsprojekt und schon spät dran.

Nach meinen Gedanken über diesen Tag wurde mir klar, jeder Tag kommt mit einem oder zwei Nächsten daher, und wie leicht ist es doch, sie links liegen zu lassen und mit „wichtigen“ Sachen weiterzumachen. Auch schweiften meine Gedanken zu den vielen Malen, bei denen ich von einem Guten Samariter profitierte, der sich spontan entschlossen hatte, ich sei sein Nächster, und mir aus der Patsche half, als ich mich in Not befand.

Bei meiner nächsten morgendlichen Andacht fiel mir auf, wie ich oft den größeren, offensichtlicheren Anliegen einiger Nächster mehr Beachtung schenkte. Mir als Missionar, regelmäßig mit jeder Menge Hilfsbedürftiger konfrontiert, schien es zur Gewohnheit geworden zu sein, sich auf die größeren und prominenteren Projekte zu konzentrieren. Darum entschied ich mich, mehr auf die kleinen Nettigkeiten und Freundlichkeiten zu achten, die ich den Nächsten zukommen lassen könnte, die mir ganz bestimmt in den kommenden betriebsamen Tagen begegnen würden.

Und es dauerte nicht lang, bis ich damit auf die Probe gestellt wurde als eine Freundin anrief und mich fragte, ob ich ihr kleines Kind für eine Stunde Babysitten könnte, da sie zu einem dringenden Zahnarzttermin gehen musste. Ich hatte mir vorgenommen, den Samstag freizunehmen und auszuspannen, aber in Erinnerung meines Entschlusses sagte ich zu, im Vertrauen darauf, eine Stunde erübrigen zu können und hinterher immer noch genug Zeit zu haben, um auszuspannen. Auch hinterließ ich meinem betrübten Nächsten eine Nachricht und drückte der alten Frau an der Ecke eine Münze in die Hand. Zum Glück brauchte an diesem Tag niemand mein Starterkabel.

Es gab noch etlich andere Nächste in den kommenden Wochen, und es wird in Zukunft auch reichlich mehr geben. Um mit dem intensiveren Achten auf diese kleinen Aufmerksamkeiten fertig zu werden, fand ich es wichtig, darüber nachzudenken, welche wirklich Meine waren, um die ich mich kümmern sollte. Automatisch einen störenden Nächsten auf meiner Liste abzuweisen war sicherlich einfacher, doch eigentlich ist wenig schon viel, wenn Gott da drinsteckt! Selbst ein Lächeln kann schon viel ausrichten und auch jemandem kurz zu helfen; eine verschenkte Münze; eine getragene Tasche; eine verschickte SMS, die Mut macht; mit jemandem zusammen zu essen; einen Moment ungeteilter Aufmerksamkeit mit jemandem verbracht oder den überfälligen Anruf zu machen.

Es ist lohnenswert, neben den großen wichtigen die unzähligen kleinen Möglichkeiten zu sehen, die man dazu verwenden kann, die Welt um uns herum zu verbessern, wenn man darauf achtet und sich des Guten Samariters erinnert und regelmäßig Gott fragt: „Wer ist mein Nächster?“

 

„‚Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr gabt mir zu trinken. Ich war ein Fremder, und ihr habt mich in euer Haus eingeladen. Ich war nackt, und ihr habt mich gekleidet. Ich war krank, und ihr habt mich gepflegt. Ich war im Gefängnis, und ihr habt mich besucht.‘ Dann werden diese Gerechten fragen: ‚Herr, wann haben wir dich jemals hungrig gesehen und dir zu essen gegeben? Wann sahen wir dich durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann warst du ein Fremder und wir haben dir Gastfreundschaft erwiesen? Oder wann warst du nackt und wir haben dich gekleidet? Wann haben wir dich je krank oder im Gefängnis gesehen und haben dich besucht?‘ Und der König wird ihnen entgegnen: ‚Ich versichere euch: Was ihr für einen der Geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr für mich getan!‘“ – Matthäus 25:32-40

 

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