Dezember 4, 2013
Die Seiten lagen unter einem weißen Schneeteppich, doch in der Mitte des Weges war das Weiß von hunderten von hastigen Füßen in eine matschige braune Masse zertreten. Es war der Tag vor Weihnachten. In beiden Richtungen eilten die Leute mit vollgepackten Armen. Sie lachten und riefen sich im Gedränge der Menge einander zu.
Über dem Weg streckten sich die langen Äste eines uralten Ahorns gegen den Himmel. Er schwankte und stöhnte als kräftige Winde seine Äste ergriffen und sie hinunter bogen. Weiter unten ertönte ein hochmütiges Lachen, und eine anmutige Tanne streckte sich und putzte ihre dicken grünen Zweige, wobei ein feiner, schimmernder Schneeschauer auf den Boden fiel.
„Man sollte meinen“, sagte die Tanne mit hoher, arroganter Stimme, „du könntest dich mehr anstrengen, still zu halten. Du siehst weiß Gott schlimm genug aus ohne die Blätter, die du schon verloren hast. Wenn du dich noch mehr bewegst, wirst du bald ganz kahl sein.“
„Ich weiß“, antwortete der alte Ahorn. „Alle haben zur Feier der Geburt des Christkinds ihre schönsten Kleider angezogen. Von hier aus kann ich die Weihnachtsbeleuchtung an den Straßenecken sehen. Gestern kam sogar jemand und schmückte jeden Baum entlang des Weges mit den hellsten und schönsten Lichtern – außer mich natürlich.“
Er seufzte leicht, und eine Schneeflocke schmolz zu einer Träne und lief seinen knorrigen Stamm hinunter.
„Ach, tatsächlich? Erwartetest du, sie würden Lichter an dich hängen, damit deine Hässlichkeit besser zum Ausdruck käme?”, grinste die Tanne.
„Da hast du bestimmt recht“, erwiderte der alte Ahorn mit trauriger Stimme. „Gäbe es doch nur einen Platz, wo ich mich verstecken könnte bis die Feierlichkeiten vorbei sind, doch hier stehe ich, das einzig Hässliche zwischen all dem Schönen. Ach kämen sie doch und hackten mich zu Kleinholz“, seufzte er wehleidig.
„Ich will dir ja nichts Übles“, antwortete die Tanne, „doch du bist ein unschöner Anblick. Vielleicht wäre es für uns alle besser, wenn sie kämen und dich fällen würden.“ Und noch einmal streckte sie ihre lieblichen dicken Zweige. „Du könntest ja versuchen, diese letzten drei Blättchen nicht zu verlieren, die dir noch geblieben sind, dann wärst du nicht so schrecklich kahl.“
„Ach, ich hab mich wirklich angestrengt“, weinte der alte Ahorn. „Jeden Herbst sage ich mir, dieses Jahr geb ich kein einziges Blatt her, aus welchem Grund auch immer, doch jedes Mal kommt jemand daher und scheint sie dringender zu benötigen als ich.“ Wieder seufzte er.
„Ich habe dir ja gesagt, nicht so viele Blätter dem schmutzigen kleinen Zeitungsjungen zu schenken“, sagte die Tanne. „Du hast sogar deine Zweige etwas geneigt, damit er sie greifen konnte. Ich habe dich ja gewarnt.“
„Ja, das ist richtig“, stimmte der alte Ahorn zu. „Aber sie haben ihn so glücklich gemacht. Ich hörte, wie er sagte, er würde noch mehr für seine gebrechliche Mutter pflücken.“
„Ach, sie alle hatten gute Gründe“, spottete die Tanne. „Das junge Mädchen zum Beispiel – sogar farbige Blätter für ihre Party! Es waren deine Blätter!“
„Sie hat sich ganz schön viel genommen, nicht wahr?”, sagte der alte Ahorn und schien zu lächeln.
Gerade dann fegte ein kalter Wind den Weg hinunter und ein winziges braunes Vögelchen fiel auf den Boden am Fuß des alten Ahorns. Es lag dort und zitterte vor Kälte, zu verfroren, um seine Flügel zu heben. Voll Mitleid schaute der alte Baum und dann, ganz schnell, ließ er seine letzten drei Blätter fallen. Die goldenen Blätter schaukelten hinunter und legten sich sanft über das frierende Vögelchen, das dann ganz ruhig unter ihrer Wärme verharrte.
„Jetzt ist es passiert!“, kreischte die Tanne. „Jedes einzelne Blatt hast du weggegeben! Am Weihnachtsmorgen wirst du unseren Weg zum hässlichsten Anblick der ganzen Stadt machen!“
Der alte Ahorn erwiderte nichts. Stattdessen streckte er seine Äste aus, um so viele Schneeflocken wie möglich zu sammeln, damit sie nicht das Vögelchen unter ihnen begraben würde. Die junge Tanne wandte sich ärgerlich ab. In dem Moment sah sie einen Maler still abseits des Weges sitzen, mit seinen Pinseln und einem Bild beschäftigt. Seine Kleider waren alt und ramponiert und sein Gesicht sah traurig aus. Er dachte an seine Familie und wie sie den leeren, freudlosen Weihnachtsmorgen erleben würden, denn in den letzten Monaten hatte er nicht ein einziges Gemälde verkauft.
Doch der kleine Baum bemerkte das nicht. Stattdessen drehte er sich zum alten Ahorn hin und sagte mit überheblicher Stimme, „Nimm wenigstens diese kahlen Äste so weit weg von mir wie möglich. Ich werde gemalt, und deine Scheußlichkeit verschandelt nur den Hintergrund.“
„Ich versuche es!“, entgegnete der alte Ahorn und hob seine Äste so hoch es ging. Es war fast dunkel als der Maler seine Staffelei einpackte und ging, und der kleine Tannenbaum war ganz müde von seinem Herausputzen und in Pose stellen.
Am Weihnachtsmorgen erwachte er spät, und als er stolz den Schnee von seinen anmutigen Zweigen schüttelte, sah er überrascht eine große Menschenmenge um den alten Ahorn voller Bewunderung stehen und nach oben schauen. Selbst diejenigen, die den Weg entlang eilten, kamen nicht umhin, für einen Moment anzuhalten.
„Was kann es wohl sein?“, dachte die stolze Tanne und schaute hinauf, um zu sehen ob vielleicht die Spitze des alten Baumes in der Nacht abgebrochen wäre.
Gerade in dem Moment flog eine Zeitung aus der Hand eines verblüfften Zeitungsjungen und landete direkt im jungen Tannenbaum. Der schluckte vor Erstaunen, denn auf der Titelseite sah man das Foto des Malers mit seinem Gemälde eines großen weißen Baumes, dessen kahlen und mit Schnee beladenen Äste sich hoch zum Himmel streckten. Unten lag ein kleiner brauner Vogel, fast ganz von drei goldenen Blätter bedeckt, und unter dem Bild standen die Worte, „Das Wunderbarste ist, wenn jemand alles gegeben hat.“
Andächtig beugte die junge Tanne ihren Kopf vor der unaussprechlichen Schönheit des demütigen alten Ahornbaumes.
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