Es erfordert ein Kind

Dezember 7, 2012

Denkt darüber nach und richtet nicht nach dem äußeren Schein, sondern richtet gerecht! – Johannes 7:24

Wir waren die einzige Familie mit einem Kind in diesem Restaurant. Ich setzte Martin in den Hochstuhl und wurde gewahr, wie die Gäste alle in gedämpfter Atmosphäre aßen oder sich unterhielten. Da quietschte Martin laut auf und krähte voller Freude: „Allo, allo daa!“ Er patschte mit seinen pummeligen Händchen auf die Ablage vor ihm. Seine Augen waren ganz groß vor Aufregung und seinen kleiner Mund zu einem großen zahnlosen Lächeln geöffnet. Dabei zappelte er vor Freude in seinem Sitz herum und lachte laut.

Beim Umherschauen entdeckte ich die Ursache seiner Fröhlichkeit. Es war ein Mann in einem abgetragenen, schmuddeligen Mantel mit ausgebeulten Hosen und dem Reißverschluss halb offen. Seine Zehen ragten aus löchrigen Schuhen hervor, die Haare waren ungekämmt und ungewaschen und sein Backenbart zu kurz, um sich Bart zu nennen. Die Nase war so varikös, sie glich einer Straßenkarte.

Zu weit entfernt, um ihn riechen zu können, war ich mir fast sicher, dass er stank. Seine Hände winkten und wedelten wie wild hin und her. „Hallo du, Babyboy! Hallo, du großes Kerlchen! Ich seh dich, du Schlingel“, rief er Martin zu. Unbehaglich wechselten mein Mann und ich Blicke: „Was sollen wir nur tun?“

Martin lachte weiter und rief zurück: „Alloo, duu da!“ Inzwischen waren alle im Restaurant auf das Spielchen aufmerksam geworden und blickten in unsere Richtung, dann in die des Mannes. Der Alte wurde langsam zur Belästigung – und das mit unserem kleinen Martin

Das Essen wurde serviert, und der Mann hörte nicht auf, durch den ganzen Raum zu rufen: „Kennst du Backe, backe Kuchen und Kuckuck? Sieh mal einer an, er kennt Kuckuck!“ Niemand schien den Alten lustig zu finden, offensichtlich war er beschwipst. Meinem Mann und mir war es peinlich. Wir aßen schweigend – alle, außer Martin, der sein ganzes Repertoire vor dem staunenden alten Mann auspackte, was von diesem mit putzigen Kommentaren beantwortet wurde.

Endlich mit dem Essen fertig machten wir uns zum Ausgang auf. Mein Mann ging bezahlen und bat mich, ihn auf dem Parkplatz zu treffen. Der Alte saß erwartungsvoll zwischen mir und der Tür. „Gott, lass mich hier nur rauskommen, bevor er mich oder meinen Martin anspricht“, flehte ich still.

Als ich dem Mann näher kam, drehte ich ihm den Rücken zu, um ihm auszuweichen und jeden Hauch seines Atems zu vermeiden. In dem Moment lehnte sich Martin über meine Schulter zu ihm hinüber und streckte beide Ärmchen aus in einer erwartungsvollen Heb-mich-hoch Pose.

Noch bevor ich ihn zurückhalten konnte, hatte sich Martin meinem Griff entwunden und war in den Armen des Alten gelandet.

So geschah es ganz unerwartet, dass ein alter, verwahrloster Mann und ein kleines Kind sich fröhlich herzten: Voller Vertrauen, Zärtlichkeit und Hingabe legte Martin sein Köpfchen an die Schulter des Mannes. Die Augen des Alten schlossen sich, und ich sah Tränen hervorquellen. Seine von Schmutz, Schmerzen und harter Arbeit gealterten Hände wiegten mein Baby zart und behutsam und streichelten seinen Rücken.

Noch nie haben sich zwei Wesen für so kurze Zeit so tief geliebt.

Ich staunte und sah ehrfürchtig zu. Eine kleine Weile schaukelte und wiegte der Alte meinen Martin so in seinen Armen, dann öffneten sich seine Augen und starrten mich direkt an. In festem, bestimmendem Ton sagte er: „Sorgen Sie gut für dieses Baby!“

Mir steckte ein dicker Kloß im Hals und ich konnte nur mit Mühe flüstern: „Ja, das werde ich.“

Fast widerwillig und sehnsüchtig, als täte es ihm weh, löste er Martin von seiner Brust. Ich nahm meinen Jungen entgegen und der alte Mann dankte mir: „Gott segne sie, liebe Frau. Sie haben mir mein Weihnachtsgeschenk gegeben.“

Ich konnte nichts weiter hervorbringen als ein gemurmeltes Dankeschön. Mit Martin in meinen Armen lief ich zum Auto. Mein Mann wunderte sich, warum ich weinte und Martin so fest an mich drückte und schluchzte: „Oh, mein Gott, mein Gott, vergib mir.“

Gerade eben war ich Zeuge der Liebe Christi geworden, wie sie sich in der Unschuld eines kleinen Kindes zeigte, das nicht auf Fehler achtete und kein Urteil fällte. Ein Kind, das eine Seele sah und eine Mutter, die zerlumpte Kleider sah. Ich war eine Christin, blind, mit einem Kind im Arm, das sehen konnte. Ich spürte, wie Gott fragte: „Bist du bereit, deinen Sohn für eine kleine Weile zu entbehren?“ wenn Er Seinen Sohn für alle Ewigkeit gegeben hatte.

Der alte Mann hatte mich unwissentlich daran erinnert: „Um in das Königreich Gottes zu kommen, müssen wir wie kleine Kinder werden.“ 1

Erschienen auf Anker im Dezember 2012


1 Verfasser unbekannt., http://god-bless-you.org/?p=1522

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