Der Freund um Mitternacht

August 2, 2024

Peter Amsterdam

[Friend at Midnight]

Die Evangelien vermitteln uns einige grundlegende Lehren über das Gebet, sowohl durch die Beispiele, in denen Jesus betete, als auch durch das, was er über das Gebet lehrte. Lukas fasst einige dieser Lehren in seinem Evangelium in Kapitel 11 zusammen. Das Kapitel beginnt damit, dass Jesus betet, und als er fertig ist, bitten ihn seine Jünger, sie beten zu lehren. Hier lehrte Jesus sie, das Vaterunser zu beten.

Lukas setzt das Thema „lehre uns beten“ fort, indem er zum Gleichnis vom Freund um Mitternacht übergeht. Es handelt sich um ein kurzes Gleichnis, unmittelbar gefolgt von einem Spruch oder Gedicht, das uns weiter über das Gebet lehrt. Werfen wir einen Blick auf das Gleichnis.

Er sagte ihnen noch mehr über das Beten und erzählte ihnen folgendes Beispiel: „Angenommen, ihr geht um Mitternacht zum Haus eines Freundes, um ihn um drei Brote zu bitten. Ihr erklärt ihm: ‚Ein Freund von mir ist unerwartet zu Besuch gekommen, und ich habe nichts zu essen im Haus.‘ Doch er ruft euch aus dem Schlafzimmer zu: ‚Lass mich in Ruhe. Die Tür ist schon für die Nacht verriegelt, und wir liegen alle im Bett. Um diese Zeit kann ich dir nicht mehr helfen.‘ Ich sage euch eins: Wenn er euch auch nicht aus Freundschaft helfen will, wird er doch am Ende aufstehen und euch geben, was ihr braucht, um seinem guten Ruf nicht zu schaden – wenn ihr nur beharrlich genug klopft“. – Lukas 11,5-8

Jesus beginnt dieses Gleichnis mit einer langen rhetorischen Frage, einer Frage, auf die praktisch jeder Jude des ersten Jahrhunderts mit einem „nyatürlich nicht!“ antworten würde Er fragt: „Kannst du dir vorstellen, nachts von einem Nachbarn aufgesucht zu werden, der dich um etwas Brot bittet, um einen unerwarteten Besucher zu bewirten, und dem du antworten würdest: ‚Die Kinder sind im Bett und die Tür ist verriegelt, also kann ich dir nicht helfen?‘“

Die Antwort ist eindeutig nein. Gastfreundschaft war im Palästina des ersten Jahrhunderts ein tief verwurzeltes Prinzip. In einem Dorf war Gastfreundschaft nicht nur eine individuelle Anforderung, sondern auch eine gemeinschaftliche. In diesem Fall war es die Pflicht des schlafenden Mannes, aus dem Bett aufzustehen, um dem Nachbarn mit den erbetenen drei Broten zu helfen, egal wie unbequem das war.

Keiner von Jesu Zuhörern würde sich weigern, aufzustehen, egal wie spät es war, um einem Nachbarn in Not zu helfen. Sie alle wussten, wie wichtig die Gastfreundschaft gegenüber Besuchern ist. Keiner würde sich mit Ausreden wie „die Kinder schlafen“ oder „die Tür ist verschlossen“ herausreden. Jesus wusste das, und jeder, der zuhörte, wusste es auch – was, wie wir sehen werden, einer der Hauptpunkte des Gleichnisses ist.

Wenn der Nachbar sagt: „Ein reisender Freund von mir ist bei mir angekommen, und ich habe nichts, was ich ihm vorsetzen könnte“, bedeutet das nicht unbedingt, dass er kein Essen im Haus hat. Am Ende des Gleichnisses sagt Jesus, dass der schlafende Mann aufstehen und dem Nachbarn geben wird, was er braucht. Es kann also sein, dass sogar mehr als Brot gegeben wird.

Was die Sorge des Schläfers betrifft, seine Kinder zu wecken, so bestanden die Häuser der Bauern damals aus einem einzigen Raum, in dem die ganze Familie auf Matten auf dem Boden schlief. Das Aufstehen aus dem Bett, das Holen des Brotes und das Aufschließen der Tür würde höchstwahrscheinlich die ganze Familie aufwecken. Aber für ein legitimes Anliegen wie die Pflicht, ausreichend Essen auf den Tisch zu stellen, damit dem Besucher des Nachbarn angemessen bewirtet werden konnte, war es selbstverständlich, dass eine solche Unannehmlichkeit hingenommen wurde.

Das Gleichnis begann mit der Frage: „Wer von euch“, worauf der Zuhörer denken würde: „Niemand.“ Jesus fasste dann die Antwort in Worte. Er sagt, dass der schlafende Mann zwar nicht aufstehen und dem Nachbarn das Brot geben wird, weil dieser ein Freund ist, er es aber wegen der Unverschämtheit seines Nachbarn tun wird .

Bibelwissenschaftler streiten über die Bedeutung des griechischen Wortes anaideia und dieses Wort und seine Verwendung in dem Gleichnis verursachen einige Schwierigkeiten bei der Auslegung der Geschichte. Die Definition von anaideia ist Schamlosigkeit oder Unverschämtheit, was weder Aufdringlichkeit noch Hartnäckigkeit bedeutet.

Wenn man die Definitionen von Schamlosigkeit und Unverschämtheit nachschlägt, stoßen wir auf Begriffe wie anstößig dreistes Verhalten; Selbstsicherheit, die mit einer Missachtung der Anwesenheit oder der Meinung anderer einhergeht; Mangel an Schamgefühl; Unverfrorenheit. In diesem Sinne sollten wir den Nachbarn, der um ein Stück Brot bittet, nicht als hartnäckig ansehen, sondern als jemanden, der bereit ist, das Risiko einzugehen, lästig zu sein, wenn es einen guten Grund gibt, als jemanden, der die Gewissheit hat, dass seine Bitte erfüllt wird, auch wenn es unhöflich erscheinen mag, den Nachbarn zu wecken. Der Mann bittet mutig und ohne sich zu genieren.

Betrachtet man die Geschichte Jesu im Licht der anfänglichen Bitte der Jünger, „lehre uns zu beten“, so ermutigt sie uns, mutig zu beten und ohne Scham vor Gott zu treten, wenn wir ihn um das bitten, was wir brauchen.

Eine von den jüdischen Rabbinern angewandte Lehrtechnik bestand darin, vom Geringeren zum Größeren zu lehren. Das bedeutet, wenn eine Schlussfolgerung in einem einfachen Fall zutrifft, trifft sie auch in einem größeren Fall zu. Jesus verwendete diese Methode bei der Wiedergabe dieses Gleichnisses: Wenn schon der schlafende Mann aufsteht und auf die Bitte seines bedürftigen Nachbarn antwortet, wie viel mehr wird Gott dann unsere Gebete erhören, wenn wir unsere Bitten an ihn richten?

Diese Geschichte aus dem täglichen Leben lehrt uns, dass Gott Gebete erhört. Er wird aufstehen, wie es der schlafende Mann tat, und uns großzügig geben, was wir brauchen. Jesus hatte seine Jünger gerade das Vaterunser gelehrt, das die Worte „Unser tägliches Brot gib uns heute“ enthält, und er schloss daran ein Gleichnis über jemanden an, der Brot braucht. Was hiermit zum Ausdruck gebracht wird, ist, dass wir Gott unsere Bitten mutig vortragen und die Gewissheit haben sollten, dass er sie erhört.

Jesus verdeutlicht diesen Punkt in den nächsten beiden Versen, in denen er sagt: „Deshalb sage ich euch: Bittet, und ihr werdet erhalten. Sucht, und ihr werdet finden. Klopft an, und die Tür wird euch geöffnet werden. Denn wer bittet, wird erhalten. Wer sucht, wird finden. Und die Tür wird jedem geöffnet, der anklopft.“ – Lukas 11,9-10 

Auf diese beiden Verse folgt das Gleichnis von den guten Gaben des Vaters, das weitere Informationen über das Gebet liefert. Dieses Gleichnis hat einen ähnlichen Aufbau wie das vom Freund um Mitternacht. Es beginnt mit einer Frage: „Gibt es einen Vater, der seinem Kind eine Schlange hinhält, wenn es um einen Fisch bittet? Oder wenn es um ein Ei bittet, reicht er ihm dann einen Skorpion? Natürlich nicht! – Lukas 11,11–12

Die Schlussfolgerung daraus wäre, dass kein Vater so etwas tun würde. Kein Vater würde seinem Sohn eine Schlange statt eines Fisches, einen Skorpion statt eines Eies* oder, wie es im Matthäusevangelium heißt, einen Stein statt eines Brotes geben. Das wäre für die Zuhörer offensichtlich gewesen. (*Schlangen und Skorpione sind laut jüdischem Gesetz unrein und dürfen nicht gegessen werden.)

Jesus beendet das Gleichnis dann mit den Worten: „Wenn aber selbst ihr sündigen Menschen wisst, wie ihr euren Kindern Gutes tun könnt, wie viel eher wird euer Vater im Himmel denen, die ihn bitten, den Heiligen Geist schenken. – Lukas 11,13 Auch hier wendet Jesus die Technik des „Geringeren“ zu „Größerem“ an. Wenn schon ein irdischer Vater, der im Vergleich zur Vollkommenheit Gottes, des Vaters, schlecht ist, seinen Kindern gute Gaben gibt, wie viel mehr wird Gott denen, die ihn bitten, die große Gabe seines Heiligen Geistes geben.

Wenn Kinder, die ihre Eltern um etwas zu essen bitten, nicht stattdessen Ungutes bekommen, wie viel mehr können wir darauf vertrauen, dass Gott, unser Vater, der unendlich viel größer ist als alle irdischen Eltern, uns als Antwort auf unsere Gebete Gutes geben wird – einschließlich seiner Gegenwart in uns durch den Heiligen Geist.

Abschließend beleuchtet Lukas in Kapitel 11 eine Reihe wichtiger Gebetsgrundsätze: Wir müssen im Gebet zuversichtlich vor Gott treten und mutig um unsere Bedürfnisse bitten, in der Gewissheit, dass wir empfangen werden, wenn wir darum bitten, und wenn wir anklopfen, die Türen geöffnet werden. Jesus weist auch darauf hin, dass wir, wenn wir von denen, die uns lieben und für uns sorgen – unseren Eltern – erwarten können, dass sie uns unser tägliches Brot geben – Nahrung und andere lebenswichtige Dinge – dann können wir darauf zählen, dass Gott, unser himmlischer Vater, dasselbe tut, und noch viel mehr. Wir können mutig im Gebet zu ihm kommen, weil wir wissen, dass er für uns sorgt.

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