Der Hirtenpsalm

Juni 11, 2021

J. R. Miller

[The Shepherd's Psalm]

„Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er lagert mich auf grünen Auen, er führt mich zu stillen Wassern. Er erquickt meine Seele. Er leitet mich in Pfaden der Gerechtigkeit um seines Namens willen. Auch wenn ich wandere im Tal des Todesschattens[1], fürchte ich kein Unheil, denn du bist bei mir; dein Stecken und dein Stab, sie trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch angesichts meiner Feinde; du hast mein Haupt mit Öl gesalbt, mein Becher fließt über. Nur Güte und Gnade werden mir folgen alle Tage meines Lebens; und ich kehre zurück ins Haus des HERRN für immer.“ – Psalm 23,1-6 ELB.

Der dreiundzwanzigste Psalm ist der bekannteste Abschnitt in der Bibel. Er ist der Psalm der Kinder, den Tausende auswendig gelernt haben. Es ist der Psalm des Krankenzimmers, der wegen der göttlichen Zärtlichkeit, die sich in den Worten offenbart, in den Herzen der Leidenden wohnt. Es ist der Psalm des Sterbebettes. Selten geht ein Christ von der Erde, ohne die Worte zu wiederholen: „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir; dein Stecken und Stab trösten mich.“ Es ist der Psalm der Älteren.

„Der Herr ist mein Hirte.“ Hirte scheint ein einfacher Name für Gott zu sein, doch wenn wir die Geschichte des Hirtenlebens im Osten kennen, ist es ein sehr passender Name. Der Hirte lebt mit seinen Schafen. Er bewacht sie bei Nacht. Er verteidigt sie, wenn sie in Gefahr sind. Er führt sie hinaus, um Weideland zu finden. Er nimmt die kleinen Lämmer und die müden auf seine Arme und trägt sie. Er sucht die Verlorenen oder Verirrten. Er gibt sogar sein Leben, um sie zu beschützen. Wenn wir all dies über den Hirten wissen, sehen wir, wie der Name uns Gott interpretiert.

„Der Herr ist mein Hirte.“ Es wäre nicht dasselbe für uns, wenn es hieße: „Der Herr ist ein Hirte.“ Er könnte für viele Menschen ein Hirte sein, all das, was dieses reiche Wort bedeutet, und doch nichts Tröstliches für mich sein. Aber wenn ich mit Freude sagen kann: „Der Herr ist mein Hirte“, dann kann ich das Lied bis zum Ende singen.

„Der Herr ist mein Hirte.“ Die Präsenzzeiten der Bibel sind reich an Bedeutungen. So sind die Verheißungen und Zusicherungen der Heiligen Schrift geschrieben. „Der Ewige Gott ist deine Zuflucht“, nicht „war“. Es hätte also vor einem Jahr oder gestern wahr gewesen sein, aber jetzt ist es nicht mehr wahr. Neulich sprach jemand von einer Person und sagte: „Er war mal mein Freund. Er bedeutete mir sehr viel, tat viel für mich. Ich ging zu ihm mit meiner Ratlosigkeit, meinen Prüfungen, meinen Fragen. Aber er ist nicht mehr mein Freund. Er ist gestern auf der Straße an mir vorbeigegangen und hat mich nicht einmal angeschaut.“ Das ist bei Gott nicht der Fall. „Der ewige Gott ist meine Zuflucht; darunter sind“ – nicht waren, nicht werden, das ist zu unbestimmt – „darunter sind die immerwährenden Arme.“ „Der Herr ist unsere Zuflucht.“ „Siehe, ich bin bei euch alle Tage.“ „Meine Gnade reicht aus für euch.“ „Der Herr ist mein Hirte.“ Es wird nie ein Moment kommen, in dem man das nicht sagen kann. „Einst geliebt“ wird nie von Christus gesagt. Er liebt bis zum Ende.

„Mir wird nichts mangeln.“ Neulich sagte jemand: „Ich habe eine gute Portion Geld für mein Alter zurückgelegt, genug, um meine Frau und mich zu versorgen, solange wir voraussichtlich leben werden.“ Ja, aber das ist keine sichere Vorsorge. Die Taschen der Erde haben alle Löcher. Der Schreiber dieses Psalms sagte nicht: „Ich habe reichlich gute Anlagen; darum wird es mir nicht an etwas fehlen.“ Er sagte: „Der Herr ist mein Hirte, darum wird mir nichts mangeln.“ ... Wenn wir Gott nicht haben, sind wir jämmerlich arm, obwohl wir vielleicht Millionäre sind. Wenn wir sagen können: „Gott ist mein!“, sind wir reich.

„Er lagert mich auf grünen Auen.“ Weiden sind zur Ernährung da. Im fernen Osten war die Frage der Versorgung immer eine ernste Angelegenheit. Es gab nur wenig Regen und oft waren die Felder ausgedörrt, sodass man keine Weide finden konnte. Dann führte der Hirte seine Herde weg, Meile um Meile, bis sie in irgendeiner friedlichen Ecke, in einem schattigen Tal, grünes, saftiges Gras fanden.

Der Vers: „Er lagert mich auf grünen Auen“ drückt aber noch mehr mit dem „lagert“ aus, nämlich ausruhen aber auch weiden, wie es auch in manchen Übersetzungen heißt. Die Schafe werden gefüttert und gesättigt, und dann legen sie sich zur Ruhe nieder. Wir können nicht ewig in anstrengenden Aktivitäten weitermachen, und Gott ist gnädig und freundlich zu uns und gibt uns viele ruhige Rastplätze mit auf den Weg. Die Nacht ist einer dieser Orte. Wir verlassen die Mühsal und den Kampf des Tages und ziehen uns zurück, um zu ruhen.

Manchmal gibt es erzwungene Ruhepausen. „Er lagert mich auf grünen Auen.“ Wir wollen nicht ruhen. Wir denken, dass unsere Arbeit uns braucht, dass wir Zeit verlieren würden, wenn wir auch nur für einen Tag aufhören würden. Dann lässt der Gute Hirte uns niederlegen, weil Er weiß, dass wir die Ruhe brauchen, um unsere Kräfte zu erneuern. Vielleicht machen wir unsere Arbeit nicht gut und die Freude schwindet aus unserem Herzen. Neulich sprach jemand von einem Christen, der früher ein Vorbild an Geduld, Freundlichkeit und Frieden war. „Er wird immer reizbarer und quengeliger“, sagte der Freund. „Er hat nichts mehr von seiner alten Geduld mit Menschen. Er scheint nur noch kalt und streng geworden zu sein.“ Er hat so bis über die Belastungsgrenze gelebt, getrieben von seiner Arbeit, dass er nervös und leicht reizbar geworden ist. Er muss sich auf die grüne Wiese legen. Vielleicht müssen mehr von uns dazu gebracht werden, sich zum Essen und Ausruhen hinzulegen. Vielleicht arbeiten wir mehr, rennen zu mehr Versammlungen, [verdienen und] spenden mehr Geld, reden mehr über Religion und verlieren doch den Frieden, die Süße des Geistes, die der wahre Test des geistlichen Lebens sind.

Der Hirte lässt seine Schafe sich hinlegen, damit sie sich ausruhen und in ihrem Gemüt stark und schön werden. Das ist es, was der Gute Hirte manchmal mit uns macht, wenn wir zum Beispiel krank werden. Wir denken, dass wir keine Zeit zum Ausruhen haben, und doch ruft Er uns zur Seite und zieht die Vorhänge zu und schließt uns ein. Beachte, es sind die grünen Weiden, auf die der Hirte seine Schafe legt – und wir empfinden unser Krankenzimmer als ein Stück Weide. Ein Freund, der mehrere Wochen im Krankenhaus lag und sich erholte, schrieb: „Ich habe mein kleines weißes Bettchen hier in diesem stillen Raum als ein Stückchen von Gottes grüner Weide empfunden.“ Er lässt uns nie am rauen Berghang, auf der staubigen Straße oder zwischen den Felsen liegen, sondern immer im weichen, satten Gras, wo wir weiden dürfen, während wir ausruhen.

Sei sicher, dass du den Segen der Krankheit, des Kummers, der Prüfung jeglicher Art nicht verpasst. Gott möchte, dass du in der Süße wächst, in der Geduld, im Vertrauen, in der Freude, im Frieden, in aller Sanftmut und Freundlichkeit; wann immer Er dich auf den grünen Weiden liegen lässt.

„Er führt mich zu stillen Wassern.“ Grüne Weiden deuten auf Versorgung hin – die Schafe müssen gefüttert werden. Die Wasserbäche deuten auf Trinken hin – die Herde muss Wasser haben. Also führt der Hirte sie dorthin, wo die Bäche fließen. Im Alten Testament haben wir oft das Bild des Hirten, der seine Schafe tränkt. Jakob fand Rahel, die die Herden ihres Vaters am Brunnen tränkte. Mose fand seine zukünftige Frau beim Schöpfen von Wasser für die Herden von Jethro. Unser Hirte führt Seine Schafe zu den Wassern der Stille, damit sie trinken und sich erfrischen können.

Der syrische Hirte führte seine Herde manchmal über steile Pfade, über unwegsame Straßen und durch dunkle Schluchten, aber nie, um ihnen den Weg schwer zu machen, sondern immer, um sie zu einem Stück grüner Weide oder an ein stilles Wasser zu führen, damit sie gefüttert und erfrischt werden konnten. Manchmal ärgern wir uns und reiben uns auf, wenn wir schlimme Erfahrungen gemacht haben. Wir sind krank, oder unsere Arbeit ist schwer, oder wir haben herbe Enttäuschungen oder schmerzhafte Verluste erlebt. Wir fragen uns, warum Gott uns auf einen so schmerzhaften und mühsamen Weg führt. Hast du jemals daran gedacht, dass Er dich auf diesen rauen Pfaden führt, damit du zu grünen Weiden, zu Wasserströmen kommst? Am Ende jedes steilen Wegstücks, jenseits jedes Tages des Kampfes oder des Schmerzes, wartet ein Segen auf dich, etwas, das dich bereichert, dich stärker, heiliger, weniger selbstsüchtig, hilfreicher macht.

„Er erquickt meine Seele.“ Es mag mehrere [Möglichkeiten geben, wie wir diese Worte interpretieren können]. Ein Wolf mag die Herde überfallen und eines von ihnen wird gerissen. Der Hirte nimmt das arme verletzte Schaf in seine zärtliche Obhut und pflegt es, als wäre es ein Kind, bis es wieder gesund ist, seine Wunde geheilt und wiederhergestellt ist. ... Er kümmert sich um das schwächliche Schaf, er nimmt es in seine Arme, legt es in seinen Schoß und trägt es, bis es sich erholt hat und wieder laufen kann. ... Eine der berührendsten Geschichten in der Bibel erzählt vom Hirten, der die neunundneunzig Schafe verlässt und in die Berge geht, um das eine Schaf zu finden, das sich verirrt hatte. ...

Der Hirte mit unendlicher Sanftmut und Geduld heilt uns, stellt uns wieder her. Oder wir werden auf dem Weg schwach, werden entmutigt und sinken nieder. Der Hirte kommt, beugt sich über uns, tröstet uns, spricht uns mutige Worte der Aufmunterung zu, gibt uns nicht auf, sondern bringt uns wieder auf die Beine, mit neuer Hoffnung und neuem Mut. Oder wir verirren uns und gehen in die Irre, wie verlorene Schafe, und der Hirte folgt uns in die Berge und sucht uns, bis Er uns findet, und stellt uns dann wieder her, erquickt uns. ...

„Er leitet mich in Pfaden der Gerechtigkeit.“ Wir brauchen Leitung und Führung. Wir wissen nicht, welchen Weg wir im Leben wählen sollen. Wir wissen nicht, wohin dieser oder jener Weg uns führen wird, wenn wir ihm folgen. Wir alle brauchen Führung. Wenn wir es wollen, können wir sie auch haben und auf Gottes Weg gehen. Es mag nicht der einfache Weg sein, aber er wird uns nach Hause führen.

„Wenn ich wandere im Tal des Todesschattens, fürchte ich kein Unheil, denn du bist bei mir. Damit ist ein besonders dunkles und düsteres Tal gemeint, eine tiefe Schlucht, in die das Sonnenlicht nie eindringt. Wir haben uns daran gewöhnt, diesen Vers auf den Tod anzuwenden. Aber es gibt dunklere Täler in dieser Welt als das Tal des Todes. Es gibt Sorgen, die schlimmer sind als Trauerfälle. ...

„Denn Du bist bei mir.“ Die Schafe brauchen kein Übel zu fürchten, wenn der Hirte bei ihnen ist. Ein christlicher Mann erzählt von einem Erlebnis aus seiner Jugendzeit, das dies verdeutlicht. Er arbeitete mehrere Meilen von zu Hause entfernt. Am Samstagabend arbeitete er lange und ging dann nach Hause, um am Sonntag bei seinen Angehörigen zu sein. Auf dem Weg lag ein sehr dunkles Tal, zwischen zwei Hügeln. Kein Stern schien hinein, und es gab kein Licht aus irgendeinem Fenster. Es wurde „das Tal der Schatten“ genannt und manchmal versteckten sich dort Männer, um die Durchreisenden auszurauben.

Der Junge war am finstersten Punkt dieses einsamen, trostlosen Weges in einer Samstagnacht, mutig, wenn auch zitternd, und sprang geradezu die Straße entlang, als er hundert Meter vor sich eine Stimme hörte, die stark, klar und voller Freude rief: „Bist du das, John?“ Sofort erkannte er die Stimme. Es war die seines Vaters. Der gute Mann wusste, dass sein Sohn in dieser dunklen Nacht eine schwere Prüfung auf dem Heimweg durch das Tal zu bestehen hatte, und so war er mit der Liebe eines Vaters da, um ihn am schwärzesten Punkt des Weges zu treffen. Alle Angst verschwand, als der Junge die Stimme hörte und sie erkannte.

Veranschaulicht dies nicht, wie Gottes Kinder getröstet werden, wenn sie das Tal der Schatten betreten? Der Weg scheint dunkel und fremd zu sein. Sie haben ihn noch nie zuvor durchschritten. Aber wenn sie ihn betreten, hören sie eine Stimme, die ihren Namen ruft, und dann sehen sie eine Gegenwart der Liebe. „Fürchte dich nicht!“, sagt die Stimme, „Ich bin bei dir!“ Dann verschwindet alle Furcht. Wenn die menschlichen Gesichter verblassen, wird das Gesicht des Guten Hirten erscheinen, strahlend vor Frieden und warm vor Liebe, und alle Furcht wird verschwinden. „Ja, auch, wenn ich wandere im Tal des Todesschattens, fürchte ich kein Unheil, denn du bist bei mir.“ ...

„Du bereitest vor mir einen Tisch angesichts meiner Feinde;“ Von allen Seiten lauern Gefahren, aber der Hirte lässt sich davon nicht abhalten, sich um seine Schafe zu kümmern. Unser Guter Hirte ist Herr der Welt, stärker als alle Feinde, Überwinder von allem, und kann Seine Schafe an jedem Ort versorgen! Wir erinnern uns, dass Jesus in der Nacht Seines Verrats einen Tisch für Seine Jünger deckte, und wir wissen, in welchem Frieden Er sie speiste – während die Feinde Ränke schmiedeten, Intrigen aushecken und sich für Seine Verhaftung versammelten. Niemand konnte Ihn oder sie stören, bis das Mahl zu Ende war.

„Du hast mein Haupt mit Öl gesalbt“, Gott will nicht, dass wir mit traurigen Gesichtern durch diese Welt gehen. Er möchte, dass wir uns freuen.

„Mein Becher fließt über.“ Ein Schriftsteller erzählt von einem Freund, der buchstäblich ein jeden Tag in einem Buch Rechenschaft mit dem Herrn ablegte. Auf der einen Seite schrieb er alles auf, was er für Gott tat; auf der anderen Seite schrieb er auf, was der Herr für ihn tat. Wenn ein Freund ihm half oder ihn aufmunterte, schrieb er das auf. Wenn er krank war und dann wieder gesund wurde, schrieb er es auf. Alle Gnade und Barmherzigkeit hielt er fest. Nach ein paar Wochen dieser Buchführung gab er es auf. „Es hat keinen Sinn“, sagte er, „ich kann nie eine Bilanz ziehen. Ich bin immer hoffnungslos verschuldet.“ Das ist die Geschichte eines jeden Lebens – die göttliche Güte sprudelt geradezu über.

„Nur Güte und Gnade werden mir folgen alle Tage meines Lebens.“ Die ganze Vergangenheit war Güte; die ganze Zukunft wird Güte sein. Gutes und liebevolle Güte von Gott alle Tage – die dunklen Tage und die Tage des Schmerzes, die Tage der Enttäuschung, die Tage der Krankheit, der Tag, an dem der Tod in dein Haus kommt, der Tag der Beerdigung – Gutes und liebevolle Güte alle Tage meines Lebens, dann " und ich kehre zurück ins Haus des HERRN für immer!“ Alle Tage dieses Lebens Güte und Freundlichkeit, aber das ist nicht das Ende, das ist erst der Anfang. „Ich werde wohnen im Hause des Herrn für immer!“

 

Aus den Schriften von J. R. Miller (1840-1912). Gekürzt und leicht angepasst von https://www.gracegems.org/Miller/shepherd_psalm.htm.

 

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